„Wir waren nur mehr Nummern. Wir hörten auf, Mensch zu werden. Ich war die Nummer 20373.
”
Am heiligen Abend, wie schön es da
zuhause war. Alle beisammen beim Christbaum und danach gingen wir zur Mette und es war so schön. [Hier] war dieses Lager, diese Kälte, diese Angst. Also, diese SS-ler und diese Hunde und diese Schießerei, alles zusammen. Und da auf einmal hörten wir die Melodie "Stille Nacht, Heilige Nacht". Und da haben wir geweint, und die Anni Borst sagte zu mir: "Aber dich hab´ ich noch nie weinen gesehen." "Ja", hab´ ich gesagt, "ich hab´ auch schon gedacht, dass ich die letzte Träne geweint hab´, dass ich keine Tränen mehr hab´. Aber schau, jetzt weine ich." So haben wir uns gehalten, mit betenden Händen, und die Tränen sind uns geronnen, und haben uns gefragt, ob sie noch am Leben sind. Keine Post, gar nichts. Man hat nicht gewusst, ob sie noch leben. Ich hab´ drei Brüder gehabt, drei Schwestern, Vater und Mutter. Alle von zuhause weg.
Ob sie noch leben oder nicht?
Das war schwer.
Und dieses Aussuchen [Selektion] war jeden Tag beim Apell, da haben sie uns jeden Tag ausgesucht. Da war immer Angst, wann die Reihe kommt. Wann kommt die Reihe? Heut´ bist du und gehst, morgen vielleicht ich. So ist es da zugegangen. Und eines Tages haben sie mich auch aus der Reihe herausgezogen. In die Reihe umgestellt, zum Verbrennen halt. Ich steh´ da drinnen und eine Polin, die ich gekannt habe, die ging dort vorbei, und ich sag´ zu ihr: "Rette mich!" Auf polnisch hab´ ich ihr gesagt und auf slowenisch: "Reši me!" Und sie zog mich aus der Reihe. Ich ging so neben ihr. Die SS-ler waren schon weit oben, die Reihe war ja lang. Ich ging da neben ihr und wieder in die Reihe hinein, in dieselbe Reihe. Und so war ich - auf so eine Art - gerettet. Und auf diese Art und Weise waren viele, viele gerettet.
Die Mutter war im Umsiedlungslager. Sie war auch mit uns in Klagenfurt eingesperrt. Der Arzt schrieb sie haftunfähig und sie kam wieder nach Eichstätt in das Umsiedlungslager. Dort hat sie Brot getrocknet für mich. Ich weiß nicht wer, von der Heimat hatte ihr [jemand] eine Dose Sasseker [geschickt]. Das ist ein Schweinefett, ein bisschen gesalzen und mit Grammeln drinnen, so etwas hat sie mir als Packerl geschickt. Dieses Packerl bekam ich gerade am Karfreitag. Das ist ein großer Fastentag. Ich dachte mir, heute ist Karfreitag, da werde ich nichts davon essen. Es ist schon so zugegangen, dass man aufpassen musste, dass man nicht bestohlen wurde. So zum Beispiel die Zockel [Holzpantoffel], die nahmen wir mit und gaben sie unter den Polster, sonst waren sie in der Früh weg, weil es waren schon viele, die keine Zockel mehr bekommen haben, die bloßfüßig waren, und die haben freilich geschaut, wo sie etwas bekommen können. Sie waren so arm. Man musste aufpassen, dass man nicht bestohlen wurde, und so habe ich dieses Packerl in diesen Bettüberzug zu mir hineingesteckt und dachte mir, dass mich keiner bestehlen kann, dass es da drinnen sicher ist. Und dabei hat mir eine bei den Füßen, während ich geschlafen habe, hat sie [den Bettüberzug] aufgeschnitten und das Packerl herausgestohlen. In der Früh war Karsamstag und ich wollte das Brot essen. Das Packerl war weg. Das Sasseker, dachte ich mir, werde ich aufsparen bis Ostern, das werde ich zu Ostern essen. In der Früh komme ich auf die Toilette hinaus, da ist dort eine leere Dose draußen gestanden. Ja. Naja. Und dann weißt, für wen das gut war. Vielleicht hat dieselbe gerade durch dieses Brot ihr Leben gerettet. War vielleicht so. Es war, ein jedes Stück Brot war da wichtig.
Aus: Ratuj mnie, reši me! (Rette mich), Österreichische Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, 65 min. Weitere Informationen zum Film finden Sie hier.
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